Die Determinanten der digitalen Transformation

Mittwoch, 01. August 2018
Thomas Schindel

Inwieweit ist der digitale Wandel in Deutschland schon fortgeschritten?

Kollmann: Wir haben das Thema Digitalisierung und die damit einhergehende Veränderung sowie Innovativität verschlafen. Die grosse Chance liegt jetzt im B2B-Bereich und in der Frage, wie die Handelsplattformen der Zukunft rund um diese B2B-Themen aussehen werden.
Nida-Rümelin: Deutschland hat zweifellos ein paar Chancen verpasst. Berühmtestes Beispiel ist die MP3-Technologie. Wir haben mit einer im internationalen Vergleich qualifizierten Facharbeiterschaft, einer mittelständischen Industrie, die stark technisch orientiert ist, und dem Phänomen der Hidden Champions gute Voraussetzungen, um aufzuholen. Daher kann ich mir gut vorstellen, dass eine Digitalisierung, die in den Kernen der Produktivitäts-Entwicklung wirkt, in Deutschland gute Chancen hat.
Fratzscher: Also ich glaube, der Zug ist noch lange nicht abgefahren. Allerdings müssen wir Europa stärken, das ist der Schlüssel. Wenn man über Digitalisierung oder Märkte spricht, können Unternehmen nur dann erfolgreich sein, wenn sie einen grossen Markt haben. Deshalb sehe ich Europa als eine riesige Stärke und Voraussetzung dafür, dass die Digitalisierung erfolgreich gestaltet wird.

Die Digitalisierung bietet Chancen. Wo liegen aber die Herausforderungen für Gesellschaft und Staat?

Leberecht: Wir müssen die digitale Transformation als eine humane, als eine emo- tionale Transformation begreifen. Vor dem Hintergrund von Künstlicher Intelligenz steht unser Menschsein auf dem Spiel. Was bedeutet es noch, Mensch zu sein im Zeitalter der Maschinen? Wir haben gedacht, dass wir uns verwirklichen können, und stellen jetzt fest, dass unsere Identität zu einem Datensatz repliziert wird und die digitalen Plattformen bei uns schon im Schlafzimmer sind.
Fratzscher: Was wir Ökonomen bei Innovationen immer schon beobachtet haben, ist, dass Monopole entstehen. Damit werden auch Eigentumsrechte verändert. Im Kontext der Digitalisierung bedeutet dies, dass wir über unsere Daten nur wenig Kontrolle haben. Wir müssen diese Eigentumsrechte korrigieren, sodass die Menschen wieder mehr Eigenverantwortung erhalten. Die Balance zwischen Markt und Staat hinzubekommen, ist allerdings schwierig, da der Markt immer agiler ist als der Staat. Dieser muss also so gestärkt werden, dass er die Interessen aller Menschen vertreten kann.
Braml: Der Staat darf nicht die Wirtschaft kontrollieren. Dieses Experiment haben wir durch. Wenn sich aber der Staat vollständig zurückzieht, dann vermachtet die Wirtschaft. Das passiert gerade in Amerika. Das halte ich für sehr gefährlich. Die Amerikaner haben gemerkt, dass da einige Wenige zu viel Macht haben. Diese bestimmen die Regeln nach ihrem Gusto.

Wie kann eine Lösung bei dieser Mixtur aus Staat und Gesellschaft aussehen?

Leberecht: Wir brauchen eine Rehumanisierung angesichts von Künstlicher Intelligenz und Automatisierung. Hierfür gibt es drei Akteure. Der Staat kann Politik machen wie etwa die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens. Der zweite Akteur sind Organisationen und Unternehmen als die einzig verbleibenden Sinnstifter unserer Zeit. Diese müssen sich überlegen, wie Effektivität gelingen kann im Zeitalter der Digitalisierung. Der dritte Bereich ist das Selbst. Hier stellt sich die Frage, was Identität bedeutet. Im Kontext der Digitalisierung geht es hierbei um das Thema der Datensouveränität und damit um die Fragestellungen ‹Haben wir die Hoheit über unsere Daten?› ‹Haben wir das Recht, mehr zu sein als nur eine singuläre Identität?›
Nida-Rümelin: Auch ich plädiere für einen digitalen Humanismus und damit für den Einsatz der Digitalisierung für ökonomische, soziale und kulturelle Zwecke – allerdings ohne die begleitenden gegenwärtigen Ideologien.
Fratzscher: Meine grösste Sorge ist, dass viele Menschen heute den digitalen Wandel nicht als etwas Positives wahrnehmen. Sie verstehen ihn sogar als eine Bedrohung. Diese Widerstände sind ein Resultat von Globalisierung in diesem technologischen Wandel. Wir müssen uns viel mehr auf die Menschen konzentrieren, die nicht davon profitieren. Sie mitzunehmen, sehe ich in den nächsten Jahren als eine riesige Herausforderung.

Was sind denn nun die «Kickstarter» für eine erfolgreiche Digitalisierung?

Nida-Rümelin: Es ist ein Prozess, an dem alle gleichermassen beteiligt sind, und der nicht von oben nach unten oktroyiert werden kann. Ferner müssen wir die Rahmenbedingungen verbessern und ein Aufbruchsignal senden, sodass diese Blockade durchbrochen wird.
Kollmann: Wir brauchen künftig einen Dreiklang von Kompetenzen. Das ist neben der fachlichen und sozialen Kompetenz auch eine Digitalkompetenz. Diese müssen wir im Rahmen des gesellschaftlichen Wandels verankern. Und wir müssen die nächste Generation neugierig halten, sie experimentierfreudig machen und sie gezielt drauf ansetzen, mit  Veränderungen zu spielen.

Wie müssten die Rahmenbedingungen dazu aussehen?

Kollmann: Wenn wir wissen, dass Innovationen im Rahmen der Digitalisierung Kapital benötigen, damit sie entstehen, dann müssen wir die Rahmenbedingungen so gestalten, dass dieses Kapital auch da ist. Elementare Veränderungen sind hier aber nur möglich, wenn wir insbesondere das private Kapital mobilisieren und dafür beispielsweise das Enterprise Investment Scheme aus Grossbritannien übernehmen, bei dem die Investments aus dem

Was sind die Erfolgsfaktoren des digitalen Wandels?

Kollmann: Ich glaube, dass die Digitalisierung uns tatsächlich weiterbringen wird, wenn wir wissen werden und auch lernen können zu wissen, wie sie funktioniert.
Fratzscher: Ich berufe mich auf einen Soziologen, der gesagt hat, der Erfolg einer Gesellschaft – wirtschaftlich und sozial – hängt von drei T’s ab: Technologie, Talente und Toleranz. Ich glaube, bei Technologie sind wir in Deutschland ziemlich gut. Bei Talente müssten wir noch mehr tun. Im Kontext der Toleranz ist das Thema Migration und offene Gesellschaft der Schlüssel, der bestimmen wird, wie wir in Deutschland in den kommenden Jahren weiterkommen werden.
Nida-Rümelin: Ich bin überzeugt, dass Deutschland gute Voraussetzungen mitbringt. Ich könnte mir vorstellen, dass sich die hohe Produktivität hierzulande durch die Digitalisierung nochmal verbessern wird. Es wird vielleicht auch nicht überraschen, dass es viele Menschen gibt, auch in den USA, die durchaus Sorge haben vor dieser Konkurrenz aus Deutschland.
Braml: Trump sieht Europa, Deutschland als Rivalen. Ich glaube, da müssen wir jetzt eine Antwort finden. Aus dem Osten ist es ähnlich bedrohlich und wir haben auch in Europa selber Nationalismen, die wieder ihre böse Fratze zeigen. Ich glaube, wenn es uns jetzt nicht gelingt, diesen Geburtsfehler der Union, der Wirtschaftsunion zu beheben, dass wir keine politische Union haben, dann werden wir es nicht mehr schaffen. Ich glaube, diese Krise zwingt uns zum Umdenken.
Leberecht: Wir müssen aufbrechen und darüber nachdenken, wie wir in Zukunft leben wollen – und zwar nicht im Sinne von Infrastrukturen und digitalisierten Industrien. Nein, wir müssen darüber nachdenken, was es bedeutet, digital Wert zu schaffen, digital zu leben und digital fair zu sein.

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In Österreich können biologische Lebensmittel trotz allgemeiner Teuerungen auf treue Verbraucher zählen.

Der erste Tag des MARKANT Mitgliederkongresses startete mit einer Talkrunde, die unter dem Thema «Die Determinanten der Gesellschaft im Zeitalter der Digitalisierung» stand. In diesem Kontext diskutierten Experten aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft über die Rahmenbedingungen des digitalen Wandels für Wirtschaft und Gesellschaft, beleuchteten die Entwicklung und gaben Hinweise auf nötige Änderungen für die Zukunft. Ein Ergebnis: Um den digitalen Wandel erfolgreich bestreiten zu können, brauche es nicht nur algorithmische Prozesse. Vielmehr würden kognitive, emotionale und soziale Kompetenzen zunehmend wichtig.

 

Die Teilnehmer der Talkrunde

Prof. Dr. Tobias Kollmann zählt laut Brandwatch zu den Top 10 der einflussreichsten Twitter-Autoren rund um das Thema «Digitale Transformation» und «Digital Leadership». Er ist Inhaber des Lehrstuhls für E-Business und E-Entrepreneurship an der Universität Duisburg-Essen und seit 2013 Vorsitzender des Beirats «Junge Digitale Wirtschaft » im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi). Ferner gehört er als Mitgründer von AutoScout24 zu den Pionieren der deutschen Internet-Gründerszene und der elektronischen Marktplätze.

Prof. Dr. Marcel Fratzscher gehört zu den erfolgreichsten Ökonomen der jüngeren Generation und ist Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin). Ferner lehrt er als Professor für Makroökonomie und Finanzen an der Humboldt-Universität zu Berlin und ist Vorsitzender der Expertenkommission der Bundesregierung zur «Stärkung von Investitionen in Deutschland».

Cherno Jobatey, Journalist und Moderator, führte durch den Mitgliederkongress der MARKANT in München. Seit 2013 ist er Herausgeber der deutschen «HuffPost». Zudem ist er seit 2013 als Gesellschaftsreporter für das «ZDF-Morgenmagazin» tätig, zuvor war er 20 Jahre lang als Moderator der «Frühstücksdirektor von Deutschland» beim «ZDF-Morgenmagazin».

Prof. Dr. Dr. h. c. Julian Nida-Rümelin gehört zu den renommiertesten Philosophen in Deutschland und ist ein gefragter Kommentator zu ethischen, politischen und zeitgenössischen Themen. Er ist Leiter des Lehrstuhls für Philosophie und politische Theorie an der LMU München. Ferner leitet er seit 2017 den Bereich «Kultur » im «Zentrum Digitalisierung. Bayern» (ZD.B). Nida-Rümelin war Kulturstaatsminister im ersten Kabinett Schröder. 

Dr. Josef Braml ist der USA-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) – einem der weltweit renommiertesten Think Tanks. Seit 2006 ist er bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Programms «USA/Transatlantische Beziehungen» tätig und Leiter sowie Herausgeber des Jahrbuchs Internationale Politik (DGAP). Braml ist zudem ehemaliger Consultant der Weltbank und legislativer Berater im US-Abgeordnetenhaus. 

Tim Leberecht gilt als scharfsinniger Vordenker für einen neuen Humanismus in Wirtschaft und Gesellschaft vor dem Hintergrund von Digitalisierung, Automatisierung und Künstlicher Intelligenz. Er ist Gründer und CEO von «The Business Romantic Society», einem Berater-Netzwerk für strategische Transformationen und Gestaltung von menschlicheren Unternehmenskulturen. Von 2011 bis 2016 war er Mitglied des «Values Council» des Weltwirtschaftsforums und ist derzeit Mitglied der Europe «Policy Group» des Forums.