Von der Vorratskammer zum Marktplatz

Montag, 01. Oktober 2018

Thesen der Studie

  • In wenigen Jahren werden die Digitalisierung und die damit verbundenen Entwicklungen auch in der Lebensmittelbranche eine Selbstverständlichkeit sein und hyperpersonalisierte Angebote ermöglichen. Wer aber nur die technologischen Innovationen im Blick hat, läuft Gefahr, die Gesamtstrategie aus den Augen zu verlieren.
  • Das Upgrading im Lebensmittelhandel wird sich in Zukunft weiter fortsetzen: Discounter wandeln sich zu Supermärkten, Supermärkte zu hybriden Gastro-Retail-Erlebnisorten. Der harte Preiskampf verlagert sich immer mehr ins Internet. Reine Versorgungseinkäufe finden künftig häufig (teil-)automatisiert über digitale Assistenten statt – dafür muss nicht mehr unbedingt ein Laden betreten werden.
  • Erfolgreich werden in Zukunft Unternehmen sein, die ihren Kunden nicht nur individuell zugeschnittene Einkaufs- und Zustelllösungen für Lebensmittel, sondern je nach Situation und Lebenslage die insgesamt beste Esslösung bieten.
  • Handel, Gastronomie, Entertainment und Events verschmelzen immer mehr. Der klassische Point of Sale wird zum „Point of Destination“: vom Ort des Verkaufens zum Ort der Wünsche und Sehnsüchte. Reine Verkaufsorte verschwinden zunehmend.
  • Durch die künftig eingespielte Verzahnung von Mensch und smarten Technologien entstehen neue Räume, neue Märkte, in denen Emotionen, sinnliche Erlebnisse und Interaktionen zwischen Menschen wieder eine grössere Bedeutung gewinnen. 
Quelle: Zukunftsinstitut, Foodreport 2019/Retail

 

Von der Vorratskammer zum Marktplatz

Wenn Daten nicht nur gesammelt, sondern auch intelligenter verarbeitet werden, wenn E-Commerce und Home Delivery für viele Verbraucher auch bei Lebensmitteln selbstverständlich werden, dann naht das Ende des Supermarkts, wie wir ihn kennen – so eine Prognose der Studie «Retailution – Von der Einkaufsunordnung zur optimalen Esslösung» des Zukunftsinstituts. Dann würde den Verbraucher das Sortiment im Supermarkt mit seinen durchschnittlich circa 10.000 Artikeln, von denen er meist nur zehn bis zwanzig wirklich braucht, nicht mehr interessieren. Dann würde es nur noch um personalisierte Einkaufslisten und um passende, auf die Person abgestimmte Vorschläge gehen.

Handelskonzepte verschmelzen

Ob Bio-Supermärkte, Discounter, Food-Lieferdienste, Vollsortimenter, Shopping-Mall oder regionaler Erzeuger – Lebensmittel gibt es heute an jeder Ecke zu kaufen, für alles gibt es das passende Geschäft. Doch die schöne Einkaufswelt der Optionen überfordert die Verbraucher – so eine These der Studie. «Sie wünschen sich nicht ein überbordendes Angebot, sondern einfache Esslösungen, die auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind», erklärt Janine Seitz. Denn längst tätigt nicht nur allein die Ehefrau und Mutter die Einkäufe, je nach verfügbarer Zeit besorgen die Einkäufe auch der Partner oder die Kinder. Dabei entscheidet jeder nach anderen Kriterien und sieht sich einer Fülle an Einkaufsalternativen gegenüber. Ferner kaufen Kunden in vielen Ländern häufiger ein als früher, bedingt durch das flexiblere Leben. Somit erfolgen Lebensmittelkäufe spontaner und weniger einem strikten Wochenplan. Vor allem auf die grosse Zahl der Singles trifft dies zu, für die selbst zu kochen immer weniger zum Alltag gehört. Ferner steigen die Ausgaben für den Ausser-Haus-Verzehr, was wiederum der LEH zu spüren bekommt.  

Hinzu komme, dass das Einkaufsverhalten immer mehr dem jeweiligen Medienverhalten gleiche. Die abonnierte Tageszeitung genügt nicht mehr, zusätzlich wird im Internet gesurft, Posts auf Instagram und Facebook gefolgt und auf unzähligen News-Portalen nach weiteren Neuigkeiten gesucht. Dies sorgt für mehr Informationen, aber auch für weniger Überblick – so ein Ergebnis der Studie. Der Verbraucher bliebe gestresster und verunsicherter zurück. 

Wertkongruenter Einkauf

Die Wünsche, Gewohnheiten und Werte lassen sich nicht mehr aus simplen demografischen Mustern ableiten. Denn neben den veränderten Arbeitsrhythmen und Zeitverwendungsmustern erschüttern zunehmend auch Internet, E-Commerce und in dem Kontext auch die digitalen Technologien die etablierten Kauflandschaften. «Das Massenmarktmodell verliert an Attraktivität, weil die unterschiedlichen Kundenbedürfnisse dank neuer Technologien, Datenverarbeitung und intelligenter Algorithmen personalisierter beantwortet werden können», so die Studie. 

Ein weiteres Ergebnis der Studie: Der Handel steckt in einer Krise, da eine klare Zukunftsperspektive fehlt. «Es naht das Ende des Supermarktes, wie wir ihn kennen, da die Handelskonzepte immer mehr verschmelzen», erklärt dazu Janine Seitz, Co-Autorin des Retail-Reports «Retailution – Von der Einkaufsunordnung zur optimalen Esslösung» des Zukunftsinstituts. So würden Tankstellen zu Minimärkten, Restaurants zu Lebensmittelhändlern und Supermärkte immer mehr zu «Grocerants», in denen es nicht nur frische Lebensmittel zu kaufen gibt, sondern auch frisch zubereitete Speisen. «Zu dieser Verschmelzung der klassischen Handelskonzepte im stationären LEH gibt es inzwischen eine Vielzahl von Nischenkonzepten wie etwa Unverpackt-Läden, Dorf-Läden oder unbemannte Stores, hinzu kommt ein wachsendes Angebot an Online-Anbietern und Lieferservices für Lebensmittel», stellt Seitz fest. Die Komplexität steigt, der Wunsch nach einfachen Lösungen wird immer grösser. 

Digitale Assistenten für teilautomatisierten Einkauf

«Ein Umdenken ist zwingend notwendig. Es geht nicht mehr um das vielfältigste Angebot, es geht immer mehr darum, dem Kunden Service zu bieten. Denn Waren in den Einkaufskorb zu legen, geht auch prima per Mausklick», erklärt die Autorin. Ein grosses Thema sei auch der Preis. «Wir sehen, dass es eine Entwicklung hin zu wert-voll statt preis-wert gibt. Der harte Preiskampf verlagert sich ins Internet. Reine Versorgungseinkäufe können künftig auch zumindest teilautomatisiert über digitale Assistenten erfolgen», so Seitz. 

Künftig gilt es also, Service-Benefits und gute Content-Kommunikation zu bieten, um den Kunden an den Markt zu binden. Produkt- und Servicequalität, aber auch eine glaubwürdige, werteorientierte Unternehmenskultur spiele hierbei eine gewichtige Rolle. Es gehe darum, ein für den Kunden wertekongruentes Einkaufen zu erleichtern. In der Kuratierung des Angebots sieht Seitz dabei die grösste Chance. «Kuratierung setzt voraus, dass der Händler seine Kunden kennt oder sich ganz klar mit seinem Angebot auf eine Zielgruppe spezialisiert», sagt Seitz. Es gehe nicht um die grösste und beste Auswahl, sondern um die Auswahl, die für einen Kunden individuell ansprechend und auf seine jeweilige Situation, in der er sich gerade befindet, zugeschnitten sei. 

Apps helfen bei Produktsuche am POS

Kuratierung im Kontext der Kundenführung durch das Geschäft kann das Einkaufen ebenfalls vereinfachen und bequemer machen. So testet die niederländische Supermarktkette Albert Heijn in der Filiale in Hoofddorp die App «Finde mein Produkt», über die sich schnell und einfach das gewünschte Produkt finden lässt. Auf der Übersichtskarte wird dann der Weg zum Regal angezeigt. Mit der App «OptUP» bietet der amerikanische Supermarkthändler Kroger eine innovative datengesteuerte Lösung, die dem Kunden hilft, fundierte und gesündere Kaufentscheidungen zu treffen. Zudem kann der Kunde darüber personalisierte Produktempfehlungen erhalten. 

Es gilt also, dem Kunden Orientierung im Einkaufsdschungel zu bieten und ihn dabei auch an die Hand zu nehmen. In dem Zuge gewinnen Beratung und vor allem die Interaktion mit ihm an Bedeutung. Das multisensorische Erlebnis frischer Lebensmittel sowie das authentische, persönliche Gespräch von Mensch zu Mensch ist von den digitalen Kanälen nicht zu toppen. «Sinnliche Erlebnisse spielen daher in einer digitalen Welt eine immer grössere Rolle etwa in Form von Verkostungen.“ Ausserdem stellt Seitz fest: «Reine Verkaufsorte verschwinden zunehmend: Handel, Gastronomie und Events verschmelzen immer mehr: Supermärkte werden dann zu Orten, an denen man sich gerne trifft – hierfür müssen natürlich die Voraussetzungen geschaffen werden.» 

So wird in Zukunft die Trennlinie nicht mehr zwischen online und stationär liegen, sondern vielmehr zwischen «Replenishment-Shopping» (Nachschub) und «Experience-Shopping». Standardvorräte werden von persönlichen Roboter-Ássistenten erledigt. Im Mittelpunkt stehen nicht mehr der Erwerb von Produkten, sondern die Inspiration, die soziale Interaktion und das Erlebnis.

 

Fazit der Studie

Supermärkte sind also dabei, ihre klassische Funktion zu verlieren und damit auch ihre gesamte Architektur und Inszenierung zu verändern. Oder sie werden gänzlich von der Bildfläche verschwinden und wieder durch kleinere Feinkostgeschäfte und Shopping-Clubs ersetzt werden. Ganz gewiss dienen sie in Zukunft nicht mehr als riesige Vorratskammer, in den sich Konsumenten bedienen, sondern primär als „Marktplatz“ im weiteren Sinn. Als Ort, an dem sich Menschen treffen, unterhalten und geniessen, an dem nicht mehr der Erwerb von Produkten, sondern die Inspiration, die soziale Interaktion und das Erlebnis im Mittelpunkt steht.

News

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Vom 24. bis 25. April findet das 125. Markant Handelsforum statt. Zu erwarten sind neben zeitaktuellen Vorträgen und Innovationen für den POS auch ein praxisnaher Austausch.

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Tegut hat das Jahr 2023 mit einem Nettoumsatz von 1,28 Milliarden Euro abgeschlossen und damit das Ergebnis des Vorjahres um 2,44 Prozent übertroffen.

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Nach einem Einbruch zu Jahresbeginn stabilisiert sich die Konsumstimmung in Deutschland jetzt wieder.

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In Österreich können biologische Lebensmittel trotz allgemeiner Teuerungen auf treue Verbraucher zählen.

Interview

Janine Seitz, Projektleiterin am Zukunftsinstitut, über die Veränderungen in der Lebensmittelbranche. 

Warum naht aus Ihrer Sicht das Ende des Supermarktes? Was sind die Faktoren für den Umbruch?
Es naht das Ende des Supermarkts, wie wir ihn kennen, weil die Handelskonzepte immer mehr verschmelzen. Wir beobachten zum einen eine Aufwertung der Discounter in Sachen Gestaltung des PoS, aber auch hinsichtlich des Sortiments. Das setzt Supermärkte unter Druck. Zum anderen wünschen sich immer mehr Konsumenten ein regionales und frisches Angebot. Supermärkte rüsten also auf und werden immer mehr zu Super-Service-Märkten. Sie ähneln immer mehr Markthallen, es gibt verschiedene Theken, Verkostungen, Events, Gastro-Angebote etc. 

Warum wird das Einkaufen immer komplexer und was wünscht sich der Verbraucher in diesem Zusammenhang?
Zu dieser Verschmelzung der klassischen Handelskonzepte im stationären LEH gibt es inzwischen eine Vielzahl von Nischenkonzepten, wie z.B. ein ländertypisches Angebot, Unverpackt-Läden, Dorfläden, unbemannte Stores etc. Hinzu kommt ein wachsendes Angebot an Online-Anbietern und Lieferservices für Lebensmittel. Das überfordert viele Kunden. Sie wünschen sich nicht ein überbordendes Angebot, sondern einfache Esslösungen, die auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind. 

Wo liegen hierbei die größten Herausforderungen für den Handel, um den Umbruch zu meistern und sich erfolgreich für die Zukunft aufzustellen?
Hierfür ist ein Umdenken nötig: Es geht nicht mehr um das vielfältigste Angebot, es geht immer mehr um Service. Denn Waren in den Einkaufskorb zu legen geht auch prima per Mausklick. Ein großes Thema ist auch der Preis: wir sehen, dass es eine Entwicklung hin zu Wert-voll statt Preis-wert gibt. Der harte Preiskampf verlagert sich ins Internet. Reine Versorgungseinkäufe können künftig auch zumindest teilautomatisiert über digitale Assistenten erfolgen. 

Welche konkreten Service-Benefits muss der Handel dem Verbraucher bieten, um ihn an den Markt zu binden?
Zum einen wird die Kuratierung des Angebots wichtig. Den Kunden Orientierung bieten im Einkaufsdschungel, sie ein Stück weit an die Hand nehmen, von Mensch zu Mensch, also über Interaktionen und Beratung. Sinnliche Erlebnisse spielen in einer digitalen Welt eine immer größere Rolle, also z.B. in Form von Verkostungen. Außerdem muss klar sein: Reine Verkaufsorte verschwinden zunehmend: Handel, Gastronomie und Events verschmelzen immer mehr: Supermärkte werden dann zu Orten, an denen man sich gerne trifft – hierfür müssen natürlich die Voraussetzungen geschaffen werden. 

Was verstehen Sie unter Kuratierung?
Kuratierung setzt voraus, dass der Händler seine Kunden kennt oder sich ganz klar mit seinem Angebot auf eine Zielgruppe spezialisiert. Es geht nicht um die größte und beste Auswahl, sondern um die Auswahl, die für einen Kunden individuell ansprechend und auf seine jeweilige Situation, in der er sich gerade befindet, zugeschnitten ist. 

Personalisierte Einkaufslisten sind gut und schön. Aber wie sieht es hier mit dem Thema Datenschutz aus?
Klar, Datenschutz ist ein großes Thema. Andererseits sind wir beim Online-Einkauf schon auf dem besten Wege dorthin – der Online-Shop speichert unsere vergangenen Einkäufe und kann gerade bei regelmäßigen Versorgungseinkäufen errechnen, wann ein Produkt wahrscheinlich nachgekauft werden muss. Für viele Menschen steht hier klar der individuelle Nutzen über dem Datenschutz. Bei Online-Einkäufen hinterlassen wir immer unsere Kundendaten – darüber sollten wir nachdenken. Natürlich dürfen personalisierte Einkaufslisten nur mit Zustimmung der Person erstellt werden. 

Inwieweit beeinflusst die Digitalisierung und im speziellen die Virtualisierung sowie Augmented Virtuality das Einkaufsverhalten und wie kann der Handel dies für sich erfolgreich nutzen?
Die Vorteile von AR und AV sehe ich generell stärker z.B. im Möbel- oder Modehandel und weniger im LEH. Menschen wollen vor allem Frischeprodukte anfassen, ihren Geruch wahrnehmen – diese sinnlichen Erlebnisse lassen sich nicht durch virtuelle ersetzen. Wo AR und AV zum Einsatz kommen kann, ist z.B. um mehr über die Herkunft eines Produkts oder die Geschichte des Herstellers zu erfahren, also letztendlich um die Transparenz über Produkte zu erhöhen und Vertrauen zu schaffen.

Was wird aus Ihrer Sicht die „Rolle“ der Supermärkte in Zukunft sein?
Die Rolle der Supermärkte wird weniger das Verkaufen und mehr das Socializing sein. Sie werden zu Orten, an denen Konsumenten mit Herstellern ins Gespräch kommen und sich so aus erster Hand über die Produkte informieren können – und dann diese Produkte eben auch kaufen können. Mit Gastro-Angeboten können die Produkte, die im Markt angeboten werden, in zubereiteter Form gekostet werden. Außerdem können sich Kunden Anregungen holen, wie Produkte kombiniert werden und zubereitet werden können. Es geht weniger ums Einkaufen und mehr ums Essen per se – vom gemeinsamen Lunch über Rezeptvorschläge und das Bescheidwissen über die Herkunft.